Denn Raben lächeln nicht

Gestern Abend. Der Rabe. Der wollte bestimmt irgendetwas von mir. Drei Mal flog er mir hinterher, in der Dämmerung unter den Bäumen, und krächzte mir sein Ra-ra-ra-ra hinterher, ich hab’s gezählt: viermal die gleiche Silbe, dunkel und kratzig. Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen, Ra-ra-ra-ra, sagte ich, aber er verstand mich anscheinend nicht, denn ich bekam keine Antwort. Aber wer kann das schon sagen, womöglich habe ich auch nur seine Antwort nicht verstanden, und jetzt ist er enttäuscht oder beleidigt. Womöglich sinnt er auf Rache, weil ich erst ein Gespräch angefangen und ihm dann die kalte Schulter gezeigt habe. Vielleicht, so stelle ich mir vor, hat er mich gefragt: hallo, wie geht’s, und ich sagte ebenfalls: hallo wie geht’s, und dann plusterte er sein Gefieder auf eine Art, die zum Beispiel ausdrücken könnte: Ganz gut, nur der linke Flügel ist heute etwas schwach, oder: Hast du etwas zu essen dabei oder was man eben so sagt. Aber ich verstehe ihn nicht, lächele nur über dieses liebe Tier, und dieses Lächeln sieht er, doch für ihn ist es kein Lächeln, denn Raben lächeln nicht, stattdessen hält er es für ein Schimpfwort, Idiot vielleicht, oder fauler Sack, und deshalb ärgert er sich jetzt, klar, würde mir ja genauso ergehen.

Wenn er ein nachtragender Rabe ist, lauert er mir heute gewiss wieder in der Dämmerung auf, um mir sein Ra-ra-ra-ra nachzuschreien, hämisch oder gekränkt. Ich werde aufpassen, auf den Klang achten, auf jede Nuance: Wird das erste Ra genauso lang sein wie das zweite und das dritte und das vierte, werden die Abstände zwischen den einzelnen Silben variieren oder wird er gar nur drei Mal – oder auch fünf Mal – diesen Ton hervorbringen, dieses Wort, das einzige, das er beherrscht? Aber ist es denn wirklich nur ein Wort, was, wenn die Tonhöhe diesen zwei Buchstaben immer eine andere Bedeutung verleiht, oder wenn die Länge der Ras ausdrückt, ob etwas Absurdes, Alltägliches, Außergewöhnliches oder Ärgerliches oder Aufregendes gemeint ist? Ich werde dastehen und nur ein einfaches Ra-ra-ra-ra hören und nicht einmal das verstehen, und er wird mich nicht verstehen, wenn ich mein Ra-ra-ra-ra ausstoße, vermutlich radebrechend in den Ohren des Rabens, für den sein Ra-ra-ra-ra womöglich eine süße Melodie ist, meines hingegen ein ungeschickter Versuch, das Bemühen eines Tölpels, eines Trottels, genau, das wird der Rabe in mir sehen: einen Dummkopf, der nicht einmal richtig rabisch kann, und wenn ich dann noch, zufällig und ohne böse Absicht, mein eigenes Ra-ra-ra-ra so herausbringe, dass es für den Raben wie ein unwirsch ausgespucktes Schmähwort klingt, dann ist es auch nicht verwunderlich, dass er so über mich denkt.

Mein Gott, was habe ich ihm gestern bloß gesagt? Gäbe es doch nur eine Möglichkeit, das zu überprüfen! Aber wie? Ich könnte nie das Ra-ra-ra-ra genauso über die Lippen bringen wie gestern, wie es so ist, wenn man nur nachahmt, ohne zu begreifen; wie es eigentlich immer ist, denn die Wirklichkeit erfindet sich immer wieder neu, mit jedem Atemzug, mit jedem Wimpernschlag, mit jedem Ra-ra-ra-ra, ja, sogar mit jedem einzelnen Ra.

Ich würde ihn gerne fragen, wenn ich ihn heute Abend sähe, Rabe, was habe ich eigentlich gestern gesagt? Ihm alles erklären, mich nötigenfalls entschuldigen, um Verzeihung bitten, ja, unter Umständen wäre ich sogar zu einer Wiedergutmachung bereit, mit Beleidigung ist schließlich nicht zu spaßen, das gehört sich nicht, ra hin ra her. Dazu müsste ich rabisch können, aber ich könnte den Raben fragen, ob er mich die Feinheiten seiner Sprache lehrt, mit Ra und Federzucken und wer weiß, was alles noch dazu gehört, unter Umständen hat es eine gewisse Bedeutung, wie der Schnabel zu halten ist, und ohne Schnabel wäre ich da natürlich enorm im Nachteil, ein Ersatz müsste her – die Hände böten sich an, zur Not. Der Rabe müsste Geduld mit mir haben, in Sprachen war ich noch nie sehr gut, unbeholfen stolpere ich stets durch die Vokale und Konsonanten, mein Gehör reicht für die Feinheiten nicht aus, und meine Zunge weigert sich, sich zähmen zu lassen, dabei ist doch eine Zunge eher hinderlich, um die Sprache der Raben zu lernen, dieses düstere Ra-ra-ra-ra, das mir möglicherweise nur deswegen düster erscheint, weil ich keine Rabenohren habe. Aber wie soll ich die Ohren ersetzen, die Flügel, die Federn; ich in meiner tumben Menschengestalt werde nie mithalten können mit der Eleganz eines Raben, nie die süße Melodie in dem heiseren Ra-ra-ra-ra hören, nie die Frage, nie die Antwort.