Ein Roman und seine Geschichte

Eigentlich habe ich den Roman “Mordswald” dreimal geschrieben.

In der ersten Fassung von 2001 gab es kein Ermittlerpaar, die Heldin hieß Karen und war zum Einschlafen langweilig. Die einzige Ähnlichkeit zu der Fassung, die Sie kennen: Eine Frau trifft im Wald einen Mann, der etwas von ihr will, das sie ihm nicht geben will. Das war’s aber auch schon mit der Ähnlichkeit. Karens Geschichte verschwand in der Schublade, erfuhr aber zum Glück eine Wiederauferstehung.

Etwa 2006 wurde aus Karen Franziska – ja, die Franziska, die Sie auch kennen. Allerdings kommt ihr in der zweiten Fassung noch eine weit aus wichtigere Stellung zu als in der letzten, sie ist nämlich die unangefochtene Hauptperson, neben Niels Hinrichsen, den Sie ebenfalls kennen. Lina Svenson dagegen hieß noch Sandra, war Anfang fünzig, rothaarig und pummelig, und Max Berg hieß Thomas Keller, ein steifer Anzugträger mit Schnauzer. Kein Wunder, dass die beiden vehement protestierten und sich weigerten, derart verunstaltet ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Ich gab klein bei und versenkte den Text in der bodenlosen Schublade, dieser unabdingbaren Grundausstattung für alle Schriftsteller.

Doch die Geschichte ließ mich nicht los. 2011 kramte ich den Text erneut hervor und werkelte daran herum. Strich das Überflüssige und fügte das Notwendige hinzu, wechselte Namen, Orte und Beziehungen aus, bis alles stimmte und die Geschichte die Form bekam, die Sie kennen.

Mehr als bei den anderen beiden Versionen hatte ich dieses Mal das Gefühl, die Geschichte würde sich über weite Strecken ohne mein Zutun entwickeln. Je klarer das Bild war, das ich mir von meinen Figuren machte, desto eigenständiger griffen diese in die Handlung ein. Mehr als einmal kam es vor, dass mein Szenenplan vorsah, Person X möge sich an einer bestimmten Stelle so oder so verhalten oder dies oder das sagen. Doch meine Figuren weigerten sich, sich irgendeinem unrealistischen Szenenplan zu unterwerfen. Sie stellten sich quer, traten in den Streik und stachelten auch noch ihre Kollegen an! Meuterei! Das ist das Letzte, was eine Schriftstellerin gebrauchen kann. Also gab ich jedes Mal zähneknirschend nach und tat, was meine Leute wollten, und schrieb die Szene um. Zum Glück, kann ich heute sagen. Meine Figuren meinen es gut mit mir.

Die größte Überraschung für mich war jedoch, dass ich selbst erst quasi am Ende drauf kam, wer denn jetzt eigentlich Philip Birkner getötet hat. Ob Sie es glauben oder nicht – auch ich habe monatelang (schreiben dauert nun einmal etwas länger als lesen) auf die falsche Person getippt. Doch voller Unbehagen stellte ich fest, dass das nicht sein kann – und siehe da, plötzlich wusste ich, wie es wirklich gewesen war. Das Spannende ist, dass ich den Text nicht einmal großartig umändern musste. Als hätte ich es von Anfang an geahnt.